Keine leichte Aufgabe hatte in den vergangenen Tagen der Direktor des Nürnberger Zoos, Dag Encke. Die Eisbären in seinem Zoo haben Nachwuchs bekommen, gleich drei Jungtiere wurden geboren. Viele Experten meldeten sich zu Wort und meinten, die Jungtiere müßten den Eisbärenmüttern sofort weggenommen werden, damit sie sicher mit der Hand aufgezogen werden können und es keine Gefährdung der kleinen Bären durch ihre Mütter gäbe, da nicht sicher sei, ob diese ihren Nachwuchs auch tatsächlich annehmen würden. Nun hat der Nürnberger Zoodirektor zu diesem Thema seine eigene Meinung und beließ die Eisbärenbabys bei ihren Müttern, da er in den natürlichen Lauf der Natur nicht eingreifen wolle – notfalls auch mit der Konsequenz, dass die kleinen Eisbären nicht überleben würden.

Ein Aufschrei des Entsetzens und der Empörung ging daraufhin durch die Republik, die offensichtlich noch ganz unter dem Eindruck der niedlichen Bilder des kleinen Knuts, dem kleinen Eisbären aus dem Berliner Zoo, stand. Man könne doch nicht tatenlos zusehen, wie unter Umständen eine in Gefangenschaft gehaltene Eisbärin ihre Kinder nicht annimmt oder gegebenfalls sogar tötet. Sogar der Tierschutzbund sah sich zu einer Stellungnahme veranlaßt, die Publicity und Aufmerksamkeit im Zeichen kleiner niedlicher Eisbärenbabys war allen kompetenten und weniger kompetenten Meinungsbildnern gewiß, doch der Zoodirektor blieb standhaft. Er beließ alle drei Eisbärenkinder bei ihren Müttern und wollte dieses so lange tun, wie er und seine Pfleger eine Chance sahen, dass die Eisbärenmütter ihre Kinder selbst groß ziehen. Von einer kleinen Minderheit erhielt er dafür sogar Zuspruch, denn es sei nun einmal nicht die Aufgabe des Menschen, derart in die Natur der Tiere einzugreifen.

Nun geschah das Drama: die Kinder der Eisbärin Vilma waren eines Morgens nicht mehr aufzufinden. Offenbar hatte Vilma ihren Nachwuchs aufgefressen, wahrscheinlich weil sie krank waren. So grausam das auch scheint, dieses Verhalten ist in der Natur aber absolut normal. Wenn eine Eisbärenmutter erkennt, dass ihr Nachwuchs krank ist oder von ihr nicht aufgezogen werden kann, dann tötet sie ihn.

Eine mediale Welle der Empörung erreichte nun den Nürnberger Zoo und seinen Direktor Dag Encke. Der Tierschutzbund Bayern sah die Fürsorgepflicht des Zoos verletzt und viele Meinungen geißelten die Verantwortlichen als herzlose Tierquäler. Allerdings gab es auch zahlreiche sachliche Meinungen, die eine Aufzucht von Hand als falsch verstandene Tierliebe sehen und die Entscheidung des Zoos für richtig hielten.

Als dann auch noch die ersten Bilder der zweiten Bärenmutter, Vera, auftauchten, die – ihr Kind zwischen den Zähnen haltend – unruhig in ihrem Gehege auf und ab ging, sah sich die Zooleitung doch noch zu einem Umdenken gezwungen. Mit der Begründung, dass das Bärenkind keine Chance zum Überleben hätte, nachdem Mutter die Geburtshöhle verlassen hatte, nahmen die Pfleger der Bärin das Kind weg und ziehen es seitdem mit der Hand auf. Zoodirektor Encke erklärte durchaus nachvollziehbar seine Rolle rückwärts (die nichts mit dem öffentlichen Druck zu tun hatte) auch im Fernsehen, medienwirksam begleitet von aktuellen Bildern eines friedlich schnarchenden und satten Eisbärenmädchens.

Seitdem kennt die Euphorie keine Grenzen mehr. Fast kein Tag vergeht, an dem nicht in den verschiedensten Medien ausführlich über den Appetit, das Schlafverhalten, die Verdauung, den Namen, die ersten Zähnchen oder sonst noch wichtige Dinge eines kleinen Bärenkindes ausführlich berichtet oder diskutiert wird. Die Webseite des Nürnberger Zoos brach unter der Last der Zugriffe zusammen, seit Tagen greifen täglich mehr als 100.000 Leute auf die Seiten des Zoos zu und wollen aktuelle Informationen und Bilder sehen. Die Anteilnahme an der Entwicklung von „Flocke“, so wurde das Eisbärenmädchen vorläufig von den Pflegern genannt, ist riesengroß und mittlerweile international. Der Nürnberger Zoo hat eine neue Riesenattraktion.

Auch wenn die Handaufzucht vielleicht gegen seine Überzeugung war, so kann sich Zoodirektor Encke jetzt schon auf einen finanziellen Schub in nicht unbeträchtlicher Höhe freuen. Sollte das Interesse auch nur annähernd so groß bleiben, wie beim Berliner Bären Knut, werden Zusatzeinnahmen von mehreren Millionen Euro für den Nürnberger Zoo sicher sein. Angeblich konnte der Berliner Zoo seine Einnahmen alleine durch Knut über zusätzliche Besucher und Merchandisingartikel, wie kleine Stoffknuths, um über 10 Millionen Euro steigern.

Den Zoo wirds freuen und viele Bürger haben ein neues lohnendes Reise- und Ausflugsziel. Warum aber die Geburt eines kleinen Eisbärenbabys schon zum zweiten Mal eine solche Euphorie auslöst und bei den Menschen solche Begeisterung für die Tiere auslöst, mag dennoch ein wenig verwundern. Insbesondere dann, wenn gleichzeitig bekannt wird, dass in Grönland die Abschußquote für Eisbären für dieses Jahr auf 135 Tiere festgelegt wurde oder dass immer mehr Eisbären in Freiheit sterben, weil ihr natürlicher Lebensraum durch den Klimawandel immer weiter eingeschränkt wird. Davon nimmt man in Deutschland nur am Rande Notiz und blendet solche Bilder und Gedanken beim Anblick eines einzelnen niedlichen Jungtieres, das man ja direkt besuchen und sehen kann, gerne aus. Und was ist mit den vielen kleinen Robbenbabys, die ihr Leben lassen müssen, weil ihr Fell zu „schönen“ Mänteln verarbeitet werden kann. Und was ist mit….

Es würde sicher vielen bedrohten Tierartensehr viel mehr helfen, wenn man sich einmal mit gleicher Begeisterung etwas näher mit den Bedingungen in ihren natürlichen Lebensräumen befassen würde.