In vielen Städten bringt man mit dem Untergrund Grauen erregende Dinge wie lichtscheues Gesindel, fragwürdige Organisationen oder die Kanalisation in Zusammenhang. Nicht so in Seattle: neugierige Bewohner sind unter den Bürgersteigen und Häusern der US-Metropole auf eine „versunkene Stadt“ gestoßen, die heute auf einer geführten Tour besichtigt werden kann.
Nach verschiedenen interessierten Leseranfragen, ob die Gerüchte um die Ruinen eines älteren Ortes unter den Fundamenten der heutigen Großstadt tatsächlich zutreffend seien, machte sich Bill Speidel, einstiger Reporter der Lokalzeitung Seattles, in den 1960er Jahren auf die Suche nach der verlorenen Stadt. Und er wurde fündig: unter dem Pioneer Square, dem ehemaligen historischen Kern Seattles, entdeckte er tatsächlich die Überreste einer versunkenen Stadt. Das alte Seattle, das großteils aus Holzgebäuden bestand, war auf einem dermaßen sumpfigen Wattboden errichtet worden, dass seine Ruinen nach einem Großbrand im Jahr 1889 buchstäblich im Erdreich versackt waren.
Um eine negative Erfahrung reicher errichtete die Stadt vor dem Wiederaufbau zu beiden Seiten der alten Straßen zuerst Spundwände und befestigte den Boden, so dass die neuen Wege und Fahrbahnen beinahe ein Stockwerk nach oben versetzt wurden. Die bizarren Höhenunterschiede innerhalb Seattles ließen große Hohlräume entstehen, die heute den begehbaren „Untergrund“ darstellen. Jedoch in den langen und wilden Jahren des Golrauschs, Handels, Glücksspiels und der Prostitution am Ende des 19. Jahrhunderts war die alte Stadt langsam in Vergessenheit geraten.
Damit der Pioneer Square und die kuriose Stadtgeschichte nicht ein zweites Mal vom Erdboden verschluckt werden, werden inzwischen regelmäßige Untergrund-Touren durch das geheimnisvolle alte Seattle organisiert.