In Keitum ist alles beim Alten: Uwe Jens Lornsen versucht die Welt zu retten, der Donnerkeil schlägt ein wie ein Blitz und im Armenhaus ist der Teufel los. So weit so gut. Wer jetzt aber denkt, alt sei langweilig, der täuscht sich gewaltig. Auch die dritte Staffel von „Living History Sylt“ verspricht jede Menge Drama.
Die Stürme des Lebens sind nicht spurlos an Uwe Peters und seiner Frau Inge vorübergezogen. Hand in Hand sitzen die beiden auf der Bank vor ihrem Haus, ihr müder Blick ist nach vorn gerichtet, ihre Gedanken jedoch hängen in der Vergangenheit. Wie gerne hätten sie viel häufiger gemeinsam hier draußen gesessen. Aber Uwe war als erfolgreicher Seefahrer die Sommer über unterwegs und Inge hatte sich um die sieben Kinder zu kümmern, von denen nur noch die beiden Töchter leben. Ihr Sohn Bonde verunglückte schon als Zehnjähriger, die anderen vier Söhne blieben auf den Weltmeeren zurück. Es ist eine sehr bewegende Szene, die sich vor dem heutigen Heimatmuseum abspielt, das Uwe Peters einst für sich und seine Familie erbauen ließ. Es ist die erste von insgesamt neun Spielszenen der neuen Staffel von Living History. Ein Projekt, das erstmalig 2009 die Geschichte der Insel zu neuem Leben erweckte. Das eintaucht in eine Zeit, die geprägt war von Seefahrt und Walfang, Verlust und Entbehrung, von Existenzangst und mitunter auch ganz profanen Alltagsstreitereien, so wie hundert Meter weiter nebenan: Eine Frau stürmt aufgebracht aus dem Haus, sie schimpft was das Zeug bzw. ihre Tracht hält und bleibt dann beleidigt im Vorgarten stehen. Es ist Christen, zukünftige Frau von Kapitän Bleick Peters, der nun ebenfalls aus dem Haus kommt und beruhigend auf sie einredet, zunächst mit nur mäßigem Erfolg. Den vorehelichen Frieden kann Bleick schließlich nur mit der Aussicht auf die gewünschten Fliesen aus Amsterdam wiederherstellen, die noch heute die Stube des Altfriesischen Hauses schmücken.
Auch auf den weiteren sieben Stationen des Living History-Rundgangs trifft man auf ehemalige Bewohner Keitums, deren Leben und Wirken das Dorf bis heute prägen: Der erste bestellte Inselarzt oder der Freiheitskämpfer Uwe Jens Lornsen. Wohlgemerkt, es geht bei Living History nicht darum, berühmte Töchter und Söhne der Insel zu huldigen, es geht um viel mehr. Es geht darum, ein Dorf, seine Strukturen und seine Einwohner in ihrer Gesamtheit abzubilden. Einen Blick in die Sylter Seele zu werfen. Sei es nun bei den Bewohnern des Armenhauses, die völlig mittellos auch noch den Verlust ihrer persönlichen Freiheit hinnehmen müssen oder bei Mutter und Tochter, die ihren Aberglauben mit wahnwitziger Überzeugung frönen. Living History richtet seinen Blick auf jeweils kurze Ausschnitte unterschiedlichster Lebensläufe und Schicksale – allesamt nicht austauschbar, aber eben doch so typisch für die jeweilige Zeit. Immerhin bilden die die einzelnen Geschichten ein Zeitfenster von rund 150 Jahren ab. Angefangen vom Leben des Pastors Paul Hansen, der 1708 nach Keitum versetzt wird bis zu Frieda von Maybach, die 1877 mit Ihrem Vater in Westerland in der Sommerfrische logiert.
Der Rundgang durch anderthalb Jahrhunderte dauert rund zwei Stunden, begleitet von versierten Insulanern, die den historischen Zusammenhang der gespielten Szenen erläutern. Darunter auch die Sylter Gästeführerin und Autorin Silke von Bremen. Sie initiierte und entwickelte Living History Sylt, wollte die Geschichte der alten Sylter nicht nur erzählen, sondern erlebbar machen. Jahrelang hat sie in Archiven geforscht, Chroniken gewälzt und Kirchenbücher durchgesehen. So lange, bis sie die Familiengeschichten vieler Keitumer Familien nachzeichnen konnte und daraus entsprechende Szenen und Dialoge ableiten konnte. „Wir spielen auf kleinen Bühnen an den Originalschauplätzen – dort, wo die Personen auch im wirklichen Leben gelacht, geliebt und gelitten haben. Zwar sind die Dialoge erdacht, aber immer auf Grundlage überlieferter Fakten.“ Dass diese nicht nur historisch, sondern auch dramaturgisch in den richtigen Kontext gesetzt werden, dafür sorgt Regisseur Tom Winter. Als Wächter über Sprechtempo (»Atmen, Atmen, vergiss das Atmen nicht«) und Attitude (»Sei mehr Kapitän als Schiffsjunge«) sorgt er dafür, dass aus 22 ehrenamtlichen Laienschauspielern und Gästeführern, den »Livings«, selbstverliebte Kapitäne, strenge Armenhausvorsteher und trauernde Pastorentöchter werden.
Für alle Beteiligten ist es im wahrsten Sinne des Wortes Ehrensache, bei Living History mitzumachen. Freizeit einzutauschen in eine gemeinsame Sache und mit dem erspielten Geld heimatkundliche Projekte zu fördern. »Wir entführen die Zuschauer für einen kleinen Moment in die Keitumer Vergangenheit, hauchen Jahrhunderte alten Persönlichkeiten neues Leben ein. Und dürfen so als Teil vom großen Ganzen den kulturellen Schatz von Sylt beleben und bewahren«, so Bruno Pischel alias Bleick Peters. Kein Wunder also, dass mit derart überzeugender und überzeugter Leidenschaft aus einzelnen Lebensläufen auf dem Papier eine lebendige Zeitreise wird, die dort endet, wo sie begann: im Garten des Heimatmuseums. Mit einem kleinen inseltypischen Snack und einem Schnack, der gerne auch inseltypisch sein darf.
An diesen Sonntagen wird Keitum 2018 zur Bühne:
27. Mai, 24. Juni, 22. Juli, 26. August, 9. September
Touren um 11.00 Uhr, 11.30 Uhr, 12.00 Uhr, 12.30 Uhr, 13.00 Uhr
Kosten: 30 Euro pro Person.
Tickets gibt es bei den offiziellen Verkaufsstellen der Insel und auf www.sylt.de. Weitere Informationen zum Projekt auf www.living-history-sylt.de.
Die Spielorte im Überblick:
1. Heimatmuseum
Kapitän Uwe Peters und seine Frau Inge trauern um ihre fünf Söhne.
2. Altfriesisches Haus
Vorehelicher Streit zwischen Kapitän Bleick Peters und seiner Verlobten Christen Jens Tamen.
3. Weberhof
Schwenn Hans Jensen im Gespräch mitNichte und Nachbar.
4. Takerwai
Mutter und Tochter zwischen Arbeitund Aberglaube.
5. Pastorat
Die Töchter des Pastors Paul Hansen unterhalten sich über ihren verstorbenen Vater.
6. Armenhaus
Disput zwischen Armenvorsteher und Armenhäuslerin.
7. Dikwai
Der erste bestellte Arzt trifft auf ein Ehepaar, dessen Kinder er vielleicht hätte retten können.
8. Denkmal Uwe Jens Lorensen
Freiheitskämpfer Uwe Jens Lornsen im Gespräch mit seinem Vater.
9. Kirchenweg
Eine Keitumer Bäuerin trifft auf Frieda von Maybach, die zur Sommerfrische in Westerland weilt.