Während man in Deutschland den 100. Geburtstag des Bauhauses feiert, lohnt sich auch der Blick ins Nachbarland Polen. Denn dort sind bis zur Zeit des Zweiten Weltkrieges zahlreiche Bauwerke entstanden, die den Geist des Bauhauses verströmen. Als Mekka der klassischen Moderne gilt die niederschlesische Metropole Wrocław (Breslau). Auch dort begeht man dieses Jahr einen runden Geburtstag. Vor 90 Jahren, am 15. Juni 1929, wurde die Ausstellung „Wohnung und Werkraum“ eröffnet. Das damals unweit der weltberühmten Jahrhunderthalle entstandene Ensemble zieht bis heute Architekturinteressierte an.
Schon sechs Jahre vor Gründung des Bauhauses präsentierte sich Breslau als Vorreiter des modernen Bauens. 1913 wurde dort nach nur zweijähriger Bauzeit die Jahrhunderthalle fertiggestellt. Deren Kuppel galt mit ihren 65 Metern Durchmesser damals als größtes freitragendes Bauwerk der Welt. Max Berg bediente sich neuester Techniken und obwohl Kritiker den baldigen Einsturz prophezeiten, wird die zum Welterbe der UNESCO gehörende Jahrhunderthalle bis heute für Messen, Sportveranstaltungen und Konzerte genutzt. In den folgenden Jahrzehnten wirkten bedeutende Architekten in der aufstrebenden Metropole. So prägen bis heute die Kaufhäuser von Erich Mendelsohn oder Hermann Dernburg das Stadtbild. An der Kunstgewerbeschule lehrten in dieser Zeit bekannte Künstler wie der Brücke-Maler Otto Mueller. Auch Oskar Schlemmer wechselte 1929 vom Bauhaus in Dessau nach Breslau und unterrichtete dort Bühnenkunst.
In dieser Zeit des Aufbruchs organisierte der Schlesische Landesverband des Werkbunds die Ausstellung „Wohnung und Werkraum“, kurz WuWa. Bedeutende Architekten waren dazu aufgerufen, mit modernen Materialien und Techniken sowie möglichst kostengünstig neuen Wohnraum für die wachsende Stadt zu schaffen. Entstanden sind insgesamt 33 Gebäude – Ein- und Mehrfamilienhäuser, die zum Wohnen und Arbeiten dienen sollten, dazu ein Kindergarten. Charakteristisch waren die meist kubischen Formen der Bauwerke mit flachen Dächern. In der Bevölkerung stießen sie nicht auf ungeteilte Zustimmung, Kritiker nannten das Viertel despektierlich „Klein-Marokko“. Zu den markantesten Bauwerken gehört das ehemalige Ledigenwohnheim. Hans Scharoun, der später unter anderem die Berliner Philharmonie entwarf, schuf das geschwungene zweigeschossige Bauwerk, das über 48 Ein- und Zweizimmer-Wohnungen verfügte. Ein Flügel war für unverheiratete Frauen vorgesehen, der zweite für kinderlose Ehepaare, in der Mitte gab es einen Gemeinschaftsbereich mit Restaurant. Heute wird der Bau von der Staatlichen Arbeitsinspektion als Seminarhotel genutzt.
Obwohl die neuen Häuser preiswert sein sollten, blieben sie für viele Breslauer unerschwinglich – und so zogen dort vor allem Künstler und Architekten ein, viele mit der Kunstgewerbeschule verbunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die Geschichte der Siedlung in Vergessenheit. Die Häuser verkamen, manche wurden im Lauf der Jahrzehnte stark verändert. Erst als Wrocław 2016 zur Kulturhauptstadt Europas wurde, erfuhr auch die WuWa-Siedlung eine Renaissance. Mit öffentlichen Mitteln wurde die denkmalgerechte Erneuerung der Gebäude unterstützt, bei Stadtführungen wurde die Geschichte der Gebäude und ihrer Architekten vorgestellt. Der 2006 abgebrannte holzverschalte Kindergarten war bereits 2013 rekonstruiert worden und wird heute vom örtlichen Architektenverband als Schulungs- und Ausstellungsraum genutzt. Zuletzt zog im Februar 2019 in den charakteristischen halbrunden Vorbau eines Laubenganghauses an der ul. Tramwajowa 2 das moderne Café InfoWuWa ein, in dem auch Informationen zur Siedlung erhältlich sind.
Doch längst besinnt man sich in Wrocław nicht nur auf die Geschichte der Werkbund-Ausstellung. Insgesamt 44 Architekturbüros waren anlässlich des Kulturhauptstadtjahres dazu aufgerufen, ihre Vorstellung vom Bauen im 21. Jahrhundert zu verwirklichen. Gemeinsam bauen sie die neue Siedlung Nowe Żerniki im Westen der Stadt. Die ersten Abschnitte des 200 Hektar großen städtischen Areals sind bereits fertiggestellt. Langsam wächst dort eine grüne Stadt, die den Menschen nicht nur Platz zum Wohnen bietet, sondern auch über Kindergärten und Schulen, Läden und Freizeitbereiche verfügt und per Straßenbahn umweltfreundlich an das Zentrum angebunden ist. (FVA Polen)